Berlin – Vielfalt im Wandel (2010) Ein Bericht über die Klassenfahrt der 9a nach Berlin (15. – 19.03.2010) - aus Sicht eines Klassenlehrers
Montag, 15.03.2010
Um 05.00 Uhr morgens versammeln sich die 9. Klassen des Ritzefeld-Gymnasiums auf dem Parkplatz „Pümpchen“ in Stolberg zum Einchecken in die Busse nach Berlin. Den dicken Bus fährt R. Ritzke (Richie), ein gebürtiger Berliner, den kleinen fährt S. Ernst. Beide werden uns unbeschadet nach Berlin karren und auch wieder zurück. Die Schüler der 9b haben schwarze T-Shirts mit dem Aufdruck „I love Bärlin“ und „Mannibärenbande“ auf der Rückseite an. Mannibär ist M. Griemens, Klassenlehrer der 9b, neben dem ich im Bus die Fahrt nach Berlin verbringe und der, stets auf der Suche nach seinem multimedialen Spielzeug, seine gesamte Umgebung kirre macht. Auch die 9a hat T-Shirts mit goldener Aufschrift anfertigen lassen, ihr Motto: „Hier sollte mal unser Berlin-Motto stehen ….“ Hintergrund: Bei der Wahl des Mottos aus 11! Vorschlägen stand anfangs der Spruch „Kreuzberg – das erste, was ich konnte, war Steine schmeißen“ hoch im Kurs, insbesondere bei den Jungs. Nachdem ich, um Schlimmeres zu verhindern, nachfragte, wer denn mit einem T-Shirt mit diesem Aufdruck noch durch Kreuzberg laufen wollte, die Demokratie gebeugt hatte, kristallisierte sich eine deutliche Mehrheit für obiges Motto heraus. Somit konnte ich dem Zusatz Dr. O auf dem Rücken meiner Schüler auch bedenkenlos zustimmen. Als Begleitung für die Klassenfahrt konnte ich B. Heck-Wattjes gewinnen, die in der Stufe Religion und Biologie unterrichtet und viele der Schüler auch von früher her gut kannte.
Zurück zur Klassenfahrt. Vorgegeben war ein Pflichtprogramm, das hauptsächlich aus Besuchen politischer Institutionen wie dem Bundestag und Bundesrat bestand, aber auch andere Aspekte vorsah: das geteilte, das jüdische, das preußische, das wissenschaftliche und natürlich auch das kulturelle Berlin. Den Schülern war in diesen Tagen jedoch auch genügend Freiraum gegeben, Berlin auf eigene Faust zu erkunden, was überwiegend unter der Rubrik „Shoppen in Berlin“ zusammenÂgefasst werden konnte.
Nachdem ich gemeinsam mit dem Hostelpersonal nach unserer Ankunft die Zimmerverteilung vorgenommen habe und mein Verteilungsvorschlag überwiegend auf Zustimmung bei den Schülern gestoßen ist, werden die Zimmer bezogen, die Unterkunft – das Grand Hostel Berlin (GHB) am TempelÂhofer Ufer – inspiziert und für gut befunden. Gegen 17.30 Uhr machen wir uns auf, das Jüdische Museum zu besuchen. Leider dämmert es schon, als wir ankommen, so dass die Architektur des Neubaus kaum zur Geltung kommt. Auch der Garten des Exils und die Stelen sind nicht zugänglich, so dass wesentliche und interessante Aspekte des Museums leider nicht besichtigt werden können – schade. Einigen Schülern fällt die teils unfreundliche bis harsche Behandlung durch das Museumspersonal negativ auf, ich muss zugeben, dass ich mich diesen Eindrucks ebenfalls nicht erwehren kann. Generell beschleicht mich das Gefühl, das man von mir mehr erwartet als Respekt und Mitgefühl. Sehr beeindruckend sind für mich die so genannten Voids, ein zentrales StrukturÂelement des Neubaus. Hierbei handelt es sich um große Leerräume, die das verwinkelte Gebäude vertikal durchziehen. Sie sind unklimatisiert und weitgehend ohne künstliche Beleuchtung, ihre Wände bestehen aus nacktem Beton und zeigen das durch die Vernichtung des jüdischen Lebens in Europa nicht mehr Darstellbare, das Verlorene. Sie machen den Verlust sicht- und fühlbar. Dies wird mir besonders im Holocaust-Turm deutlich, einem dieser Voids, kalt, dunkel, geräuschlos, nur durch ein kleines Fenster hoch oben dringt ein wenig Licht des abendlichen Berlins in den Raum – wer dort allein ein wenig verweilt, bekommt recht schnell ein Gefühl dafür, was Holocaust bedeutet. Einer der fünf Leerräume beherbergt die Installation »Shalechet« (Gefallenes Laub) des israelischen Künstlers Menashe Kadishman, auf die ich sehr gespannt bin, die jedoch ebenfalls nicht besichtigt werden kann.
Angesichts der Fülle der Exponate und der anstrengenden Anreise kann ich auch verstehen, dass einige Schüler nicht so rechten Zugang zum Thema finden. Viele sind schon recht müde, so dass wir die geplanten gemeinsamen Aktivitäten im Klassenverband nach dem Museumsbesuch fallen lassen und den Abend zur individuellen Gestaltung freigeben.
Also begebe ich mich mit B. Heck-Wattjes auf die Suche nach etwas Essbarem – wir bevorzugen das Nikolaiviertel. Ich habe einen Tipp bekommen, dass das „Kartoffelhaus“ recht gut sein soll. Da wir es im Nikolaiviertel nicht finden und unsere Mägen zur Einkehr rufen, probieren wir das Alt-Berliner Restaurant „Mutter Hoppe“ aus, das mit einer eindrucksvollen Treppe ins Souterrain einlädt. Wir nehmen auf Omas Sofa Platz, bestellen Berliner Weiße in Rot und stärken uns mit Entenbrust und SchweinekrustenÂbraten. Wie sich später herausstellen sollte, verpassen die Schüler die erste Gelegenheit, die Berliner Weiße – auch Touristenlimo genannt – zu probieren.
Gegen 22.00 Uhr stoßen wir dann zu einigen Schülern, die auf den Berliner Fernsehturm am Alex wollen. Da es regnet, die Temperatur bei gefühlten – 10°C liegen und es zudem noch neblig ist, rate ich von einer Fahrt mit dem Aufzug ab, da die Aussicht an diesem Abend wohl eher bescheiden ausfallen dürfte. Und so schlurft die Gruppe entlang den Linden bis zur Friedrichstrasse durch das nächtliche Berlin, vorbei am Checkpoint Charlie und einigen Berliner Bären, die vor „wichtigen“ Gebäuden Wache stehen, bis zum Halleschen Tor und dann nach rechts Richtung GHB. Die Zimmer haben Zugangscodes, so dass wir die Anwesenheit unserer Schüler nur erahnen können – na gut, ein bisschen Risiko ist immer. Gute Nacht.
Dienstag, 16.03.2010
Ich wache gegen 07.00 Uhr auf, habe gut geschlafen. Nach dem Duschen rufe ich meine mails ab und werde um 08.00 Uhr per Handy zum Frühstück gerufen – die Klasse vermisst mich schon. Ich hätte nicht gedacht, dass so viele sich um diese Zeit schon im Frühstücksraum einfinden – Respekt! Nach einem ausgiebigen Frühstück und einem kurzen Spaziergang zur nächsten U-Bahnstation zwecks Besorgung der 5-er-Tickets werden die Gruppen zusammenÂgestellt, die ihre ersten Berlin-Erkundungen bei Tag unternehmen wollen. Mein vorgeschlagenes Programm scheint niemanden zu motivieren, mit den Paukern mitzugehen. Nichtsdestotrotz machen wir uns auf, einmal quer durch die Stadt zum Dorotheenstädter Friedhof, der unweit vom Naturkundemuseum liegt, unserem eigentlichen Ziel.
In der U-Bahn fällt uns ein genervter Grundschullehrer auf, der mit seinen Schülern anscheinend auf dem Weg zum Naturkundemuseum ist und seinen Schülern bei jedem freiwerdenden Platz in der Bahn auftrug: „Du, setzen! Setz dich!… Nun setz dich endlich!“ Später sehen wir ihn draußen, wie er nervös an einer Zigarette zieht. So möchte ich nicht enden…
Es ist zwar noch ziemlich kalt, die Wolken haben sich jedoch verzogen, und manchmal kommt sogar die Sonne heraus, so dass wir die zeitweise schon recht kräftigen Sonnenstrahlen genießen. Wir laufen einmal quer über den Friedhof, auf dem bekannte Persönlichkeiten wie z.B. Bert Brecht und Johannes Rau begraben sind, und quatschen über dies und das. Mitunter bleiben wir an besonders beeindruckenden Gräbern oder Inschriften stehen, so z.B. ein Familiengrab, in dem die Eltern sowie vier Kinder begraben sind, die in einem Zeitraum von fünf Jahren allesamt an Scharlach verstorben sind – welch ein Schicksal.
Das Naturkundemuseum ist durchaus sehenswert, und das bezieht sich nicht nur auf die großen Dinoskelette in der Halle. Mir fallen viele kleine Präsentationen auf, die – teils originell, teils liebevoll arrangiert – Groß und Klein begeistern. Viele Kids sitzen herum und lösen Quizaufgaben, generell ist das Museum recht gut besucht. Interessant ist eine Installation, bei der man die Ellenbogen auf eine vibrierende Matte drückt, die Hände an die Ohren hält und die Stimme eines Sprechers deutlich vernehmen kann – der Schall wird über die Armknochen übertragen. Auch die Darstellung des Universums ist sehenswert. Auf einer Etage kann man einen Blick in die Präparationsräume des Museums werfen – Forschung und wissenschaftliche Arbeit live! Man stelle sich die Sysiphus-Arbeit vor, die Vielzahl an Präparaten von Zeit zu Zeit in neue Alkoholgläser zu verfrachten – bei dieser Arbeit muss man doch abends blau sein.
Wieder an der frischen Luft, genießen wir den sonnigen Spaziergang Richtung Hauptbahnhof, wo wir nach der Halle mit den Buddy-Bären fragen. Antwort: „Da jehnse mal 2 Etagen runter in die U-Bahn, da stehnse alle.“ Die Buddy-Bären sind – wie ich finde – eine prima Idee, die Hauptstadt in den deutschen Botschaften in aller Welt zu vertreten. Ein bisschen dick sind sie ja schon, aber alle nett.
Weiter geht´s über die Spree, vorbei am Bundeskanzleramt und Paul-Löbe-Haus zum Reichstag. Nach einem Kaffee schräg gegenüber treffen wir uns mit der gesamten Klasse unter dem Brandenburger Tor. Einige stürmen auf uns los und sind ganz aufgeregt, weil sie einen Politiker getroffen haben, der mit ihnen gequatscht hat. Leider fällt ihnen der Name nicht ein, später stellt sich heraus, dass es sich um „Münte“ gehandelt haben muss, erkennbar an seinem typischen Markenzeichen, dem roten Schal.
Wir begeben uns Richtung Reichstag, wo wir uns mit der 9b treffen, machen dort ein, zwei Gruppenfotos und schleusen uns in das Paul-Löbe-Haus ein, wo wir gemeinsam ein Mittagessen einnehmen. Nach dem Essen besucht uns ein alter Studienkollege, mittlerweile Referent für Klimaschutz und Umwelt bei den Grünen. Wir quatschen ein wenig über alte Zeiten und verabreden uns für Mittwochabend in einer Jazzkneipe – im Quasimodo. Danach werden wir in den Reichstag geführt und nehmen nach etlichen Sicherheitsvorkehrungen an einer Debatte im Bundestag teil – es geht um den Haushalt und hier im Speziellen um Verkehr. Ich kann Minister Ramsauer erkennen, Thierse und Solms halten abwechselnd den Vorsitz, im Plenum sitzen u.a. Nahles, Höhn und Gabriel. Generell sitzen alle recht lustlos herum, von Zeit zu Zeit wird fraktionsweise solidarisch geklatscht, faszinierend sind zwei Abgeordnete mit Hospitalismuserscheinungen, die eine Stunde lang nichts anderes machen als mit ihrem Rollstuhl hin und her zu fahren – angesichts der Diäten, die die Politiker erhalten, ein erschreckendes Bild. Man kann nur hoffen, dass die Arbeit in den Ausschüssen deutlich effektiver verläuft. Dazu passt auch eine Anekdote, die mein Studienkollege mir erzählte: in manchen Debatten sitzen die Abgeordneten meist in ihren Büros herum und begeben sich oft nur auf die Durchsage hin: „Die Präsenz im Plenum lässt ein wenig zu wünschen übrig“ in den Sitzungssaal.
Das anschließende Interview mit MdB H. Brandt, der die Städteregion Aachen im Bundestag vertritt, bietet für uns die Gelegenheit, einen Abgeordneten des Bundestages mal näher kennen zu lernen. Viele Schüler der 9a und 9b sind an der sich entwickelnden Diskussion interessiert. So wird z.B. ein Meinungsbild erstellt, ob die Bundeswehr sich aus Afghanistan zurückziehen solle oder nicht – die überwältigende Mehrheit ist für einen Rückzug. Herr Brandt bemüht sich daraufhin, seinen konträren Standpunkt bzw. den der Bundesregierung darzustellen.
Nach dieser Debatte steht noch der Besuch der Kuppel auf dem Reichstag an, viele genießen den abendlichen Rundblick über die Stadt und nutzen die Gelegenheit zur Fotosession. Wieder unten angekommen, wird die Runde aufgelöst, man geht gruppenweise auseinander. Wir Lehrer setzen uns in die Linie 100 Richtung Bahnhof Zoo, stellen fest, dass die Gedächtniskirche geschlossen ist bzw. restauriert wird und machen uns auf ins „Klo“, eine urige Kneipe mit allerlei Utensilien und Gimmicks zum Thema „Stilles Örtchen“. Einer der Angestellten hat den ganzen Abend nichts Besseres zu tun als die Gäste – alle Gäste! – zu beschimpfen. Uns hält er für Baden-Württemberger, so dass wir einige seiner Sticheleien gar nicht auf uns beziehen. Über seine Sprüche lasse ich mich an dieser Stelle nicht näher aus, ich kann mir aber gut vorstellen, dass der ein oder andere empfindliche Zeitgenosse ihm wegen seiner großen Klappe auch mal einen Prozess an den Hals gewünscht hat. Genug von beweglichen Tischen, Getränken in Kathedern oder Urinflaschen und Pöbeleien seitens des Personals. Die Berliner Weiße und die Currywurst aus der Nierenschale haben uns jedenfalls geschmeckt. Als Andenken an diesen Abend nehme ich noch eine Basketballbrille mit, eine weitere für L., der am nächsten Tag Geburtstag haben wird. Wir finden eine U-Bahn-Linie, die uns direkt zur Möckernbrücke bringt, 2 Minuten Fußweg und wir sind wieder im Hotel.
Mittwoch, 17.03.2010
Frühstück wie gehabt, nicht alle sind putzmunter, da einige wohl in L.´s Geburtstag hinein gefeiert haben. L. probiert seine Basketball-Brille auf und müht sich redlich, das orange Bällchen im blauen Korb zu versenken, auch andere probieren den Nackentrainer aus. Die Mädels räkeln sich schon auf der Ledercouch im Frühstücksraum, so dass es Zeit wird, etwas zu unternehmen. Wir brechen gemeinsam zur U-Bahn auf. Ein paar der Jungs leiten die Truppe auf den richtigen Bahnsteig Richtung Potsdamer Platz. Dort ans Tageslicht
gekommen, versammelt sich die Klasse erst einmal an einem Stück Berliner Mauer, bevor wir unseren Spaziergang quer durch das Sony Center und ein Stück durch den Tiergarten Richtung Brandenburger Tor beginnen. Es ist trüb, jedoch regnet es nicht, auch scheint es ein wenig wärmer als tags zuvor zu sein. Am Holocaust Mahnmal (Denkmal für die ermordeten Juden Europas) verteilt sich die Klasse zwischen den Betonblöcken – ich
versuche, mir ein eigenes Bild dieser Installation zu machen, indem ich mir die Frage stelle: Wie hätte ich diesen Platz gestaltet? 27,6 Mio. Euro finde ich dann auch ein bisschen viel… Leider besucht kaum ein Schüler den unter dem Mahnmal gelegenen „Ort der Information“ – schade.
Nachdem einige sich in den umliegenden Straßen mit Donuts u.a. eingedeckt haben, spazieren wir wieder Richtung Potsdamer Platz und biegen in die Leipziger Straße ein, wo wir auf die 9b treffen zum gemeinsamen Besuch des Bundesrates. Nach einer kurzen Einführung in die Architektur des Gebäudes – zeitweise sind „drei Grazien“ anwesend,
besichtigen wir den Plenarsaal des Bundesrates, lernen die Sitzordnung kennen und werden in die Gepflogenheiten der Abstimmungen im Bundesrat eingewiesen. Anschließend geht es an die Arbeit. Alle Schüler beider Klassen werden eingespannt, sei es als Vertreter der Länder im Bundesrat, als Vertreter der Bundesregierung, als Bundestagspräsident oder Schriftführer. Nach zähem Beginn entwickelt sich eine lebhafte Debatte um die Frage, ob der Führerschein mit 16 eingeführt werden soll, und wenn ja, unter welchen Bedingungen. Vom Gesetzesentwurf bis zur Abstimmung im Bundesrat wird die ganze Prozedur durchgespielt, und ich habe den Eindruck, dass es allen recht viel Spaß macht.
Nach einer kurzen Mittagspause steht dann noch ein Besuch im Deutschen Dom an – deutsche Geschichte im Schnelldurchgang – hier ist noch einmal Aufpassen angesagt. Die
Ausstellung „Wege – Irrwege – Umwege“ zeigt auf insgesamt fünf Etagen die historische Entwicklung des liberalen parlamentarischen Systems in Deutschland. Sie widmet sich vorrangig jenen Epochen, in denen die wesentlichen Grundlagen für die politische Ordnung der Bundesrepublik Deutschland gelegt worden sind. Unsere Referentin gibt sich redliche Mühe, die parlamentarischen Entscheidungsprozesse und Konflikte anhand ausgewählter Abbildungen nachzuzeichnen, die Funktion und Arbeitsweise von Volksvertretungen darzustellen und die Entstehung, Entwicklung und Arbeit der politischen Parteien in Deutschland begreifbar zu machen, indem sie zahlreiche Querverbindungen zum heute gültigen Grundgesetz der BRD aufbaut. Sie erreicht damit nicht alle Schüler, ein Rundgang ohne Führung hätte den Schülern den etwas trockenen Stoff jedoch weit weniger zugänglich gemacht.
Nach diesem anstrengenden Programm ist für den Rest des Tages individuelle Gestaltung angesagt. Nachdem wir ein paar Schüler zum GHB gebracht haben, machen B. Heck-Wattjes und ich uns auf zu den Hackeschen Höfen und schlendern durch alle Hinterhöfe. Ich nutze die Gelegenheit, im Ampelmännchen-Shop ein paar Souvenirs zu ergattern für die Halbwüchsige und den Zwerg zu Hause. Auf halbem Wege entlang
der Oranienburger Straße Richtung Tacheles, kurz hinter der Synagoge, entdecken wir in einer Seitenstraße das indische Restaurant Geeta, lassen uns nieder und unsere Gaumen von der Vielfalt der Gewürze und Düfte verwöhnen – eine gute Entscheidung, wie ich finde. Diesmal jedoch keine Berliner Weiße, sondern Mango Lassi, wie es sich gehört.
Wir brechen rechtzeitig auf, da wir ja noch eine Verabredung mit meinem ehemaligen Kollegen im Quasimodo haben, also ´rin in die U-Bahn, dann in die 100, 2. Etage, ganz vorne wegen der Sicht, einmal quer durch die Stadt bis zum Bahnhof Zoo, zweimal rechts in die Kantstraße. Vor dem Theater des Westens wechseln wir die Straße, um die hell erleuchtete
Fassade auf uns wirken zu lassen. Im Jazzkeller haben wir noch Gelegenheit, ein wenig zu quatschen, bevor gegen 22.30 Uhr die Jam-Session mit einem hörenswerten Opener beginnt. Ich bin derartige Lautstärken nicht mehr gewohnt und habe lange keinen Funk Jazz mehr live gehört, je länger ich jedoch zuhöre, desto mehr juckt es mich, wieder selbst zu den Instrumenten zu greifen und etwas auf die Beine zu stellen. Nach einigen Songs geht der Abend in die Jam Session über, bei der Künstler der Szene doch recht gute Performances hinlegen, insbesondere die Bassisten. Später höre ich von C. Wieners, dass in einer Jazzkneipe im Prenzlauer Berg – das B-Flat – ein Trio mit dem Bassisten von Lyambiko ebenfalls einen vergnüglichen Abend bereitet hat. Na ja, man kann sich halt nicht zweiteilen. Wir jedenfalls haben unseren Spaß und machen uns kurz nach Mitternacht auf Richtung GHB.
Donnerstag, 18.03.2010
Frühstück gegen 08.00 Uhr, gemeinsamer Aufbruch heute ein wenig später. Auf der Tagesordnung steht ein Besuch bei Madame Tussauds. Ich beauftrage heute mal die Mädels, den Weg zu suchen und zu finden, was sie auch mit Bravour hinbekommen – man spürt förmlich, wie der Stolz in ihnen hochsteigt. Es ist deutlich wärmer geworden, die Sonne scheint, und es ist Zeit für das erste
Eis oder einen gemütlichen Kaffee unter den Linden, mit Blick auf das Hotel Adlon. Ich täusche mich nicht, das schöne Wetter lockt viele Leute vor die Tür. Beim Spazierengehen kommt uns Prominenz entgegen – in diesem Fall Max Schautzer mit Anhang. Wie wir da so sitzen, gesellen sich einige Schüler zu uns, freiwillig – ein seltenes Erlebnis.
Noch ein wenig Warten am Eingang, stürmen die meisten schließlich ins Madame Tussauds, wir nehmen uns Zeit, die Wachsfiguren näher zu betrachten und gehören ruckzuck zu den letzten unserer Gruppe. Während manche Figuren wirklich gut gelungen sind – so z.B. der Papst oder auch Boris Becker, können wir an manch anderer Figur doch deutliche Abweichungen entdecken. Speziell in der Showbiz-Abteilung sind insbesondere die Mädels aus dem Häuschen, E. und J. gelingt ein tolles Gruppenfoto in Pose mit Marlene
Dietrich. Ich lasse mich mit Moritz Bleibtreu ablichten, ich weiß nicht, wieso gerade der, Nicole Kidman schräg gegenüber wäre wohl besser gewesen, aber was soll´s … ich erhole mich kurz am Tisch von George Clooney und gebe dann die Parole aus, dass sich alle um 13.00 Uhr am Bahnhof Friedrichstraße am Gleis der S-Bahn S75 einfinden sollen, nicht ahnend, dass dies alle schaffen werden. Respekt!!! Wir fahren ein längeres Stück mit der S-Bahn durch Ostberlin – ein etwas anderes Berlin als das glamouröse, das wir bisher gesehen haben. Anschließend mit dem Bus zur Gedenkstätte Hohenschönhausen, wo wir mit der 9c zusammen einen Besuchstermin organisiert haben. Wir werden in drei Gruppen aufgeteilt und je einem Referenten zugeordnet, der uns über das Gelände führt. Meine Gruppe hat Karl-Heinz Richter als Referenten. Man merkt den Schülern an, dass sie an den Besuch des ehemaligen Stasi-Gefängnisses keine allzu großen ErwarÂtungen stellen. Doch
nach zwei, drei Sätzen dieses ehemaligen Stasi-Häftlings waren alle wie gebannt von seinen Erzählungen über sein eigenes Schicksal an diesem Ort. Hierzu ein Auszug aus seinem Steckbrief aus der Website der Stiftung:
K.-H. Richter wurde 1946 in Schwarzheide im Oberspreewald geboren. Schon während seiner Schulzeit lehnte er sich gegen das SED-Regime auf und wollte sich den Zwängen der kommunistischen Diktatur nicht beugen… Im Januar 1964 plante er zusammen mit sieben Ostberliner Jugendlichen, aus der DDR zu fliehen. Die Schulkameraden betraten in einem Zeitraum von drei Wochen nacheinander das Gleisbett hinter dem Bahnhof Berlin-Friedrichstrasse und sprangen allein oder zu zweit aus einem Versteck auf einen anfahrenden Nachtzug, um von Ost- nach West-Berlin zu gelangen. Richter stolperte
jedoch und schaffte es nicht, den Zug zu erreichen… Aus Angst vor der Entdeckung durch Grenzposten sprang er eine Mauer hinunter und brach sich dabei beide Beine und den rechten Arm. Mit großen Schmerzen schleppte er sich bis zur elterlichen Wohnung und wurde dort wenige Tage später vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) verhaftet. Schwer verletzt wurde er in das Untersuchungsgefängnis des MfS nach Berlin-Pankow gebracht. Seine Verletzungen wurden jedoch nicht ausreichend behandelt. Verurteilt zu acht Monaten wegen „versuchter Republikflucht“, wurde er wegen seines schlechten Gesundheitszustandes im Juli 1964 bereits nach einem halben Jahr entlassen… 1975 stellte Richter einen Ausreiseantrag, durfte schließlich mit seiner Ehefrau und seiner Tochter die DDR verlassen, erhielt aber eine ständige Einreisesperre in die DDR, die bis 1989 wirksam war. Er lebte lange Zeit im Ausland und kehrte erst 2004 nach Berlin zurück. Seit 2008
führt er Besuchergruppen durch die Gedenkstätte Berlin-HohenÂschönhausen. Sein Schicksal hat er in einem autobiografischen Buch verarbeitet (Richter, Karl-Heinz: Mit dem „Moskau-Paris-Express“ in die Freiheit (2003)).
Diese nüchternen Zeilen spiegeln nicht im Entferntesten die Ergriffenheit wider, die in den Augen und im Verhalten der Kids zu sehen und zu spüren war, als dieser Mann seine Geschichte erzählte. Ich bin sicher, dass dieser Besuch bei jedem der Teilnehmer so tiefe Eindrücke und Spuren hinterlassen hat, dass sie wohl kaum jemals in Vergessenheit geraten werden. Ich denke, jeder nimmt aus diesem Besuch etwas ganz Persönliches mit, und aus den Äußerungen und Reaktionen hinterher kristallisiert sich für mich heraus, dass dieser
Besuch für viele den absoluten Höhenpunkt der Berlinfahrt darstellt.
Laut Plan wäre hiernach ein Besuch des Spectrum, eines Teils des Technikmuseums, geplant, angesichts der fortgeschrittenen Zeit, vielmehr jedoch auch aufgrund der tiefgreifenden Eindrücke aus Hohenschönhausen, die erst verarbeitet werden müssen, verzichten wir auf einen Besuch und machen als nächsten Treffpunkt das Matrix am Warschauer Platz aus, wo ab 21.00 Uhr die große Berlin-Abschlussparty steigen soll. Zuvor streifen wir Lehrer noch durch Kreuzberg auf der Suche nach einem türkischen Restaurant, laufen der Klasse 9c zufällig über den Weg und enden bei „Al Kalif“, wo wir uns etwas unbequem, da ungewohnt, auf Lagern niederlassen und eine Reihe nahöstlicher Köstlichkeiten probieren – wiederum eine sehr gute Wahl.
Vor dem Matrix sind alle Schüler schon ganz aufgeregt und verschwinden mit ihren farbigen Armbändchen nach Einlass gleich auf einer der beiden Tanzflächen, während wir Lehrer die berühmte „Abstellkammer“ aufsuchen. Ich erschrecke mich über die vielen „Frackträger“ in diesem Raum, und es wundert mich auch nicht, dass die meisten mit ihren Klassen gegen 23.00 Uhr die Veranstaltung verlassen. Auch wenn die Getränkepreise m.E. nicht wie angepriesen schülergerecht sind, so haben die meisten aus der Klasse doch ihren Heidenspaß am Abzappeln, nur wenige haben anscheinend einen anderen Musikgeschmack – zu denen gehöre ich auch. Nach ein, zwei Pflicht-Tänzchen und einer Runde durchs Etablissement ist die Party gegen Mitternacht auch schon vorbei und wir machen uns müde
und teils mit wunden Füßen auf zum GHB.
Freitag, 19.03.2010
Da wir in weiser Voraussicht starken Verkehrs auf der Autobahn die geplante Abreise von 10.00 Uhr auf 09.00 Uhr vorverlegt haben, kann niemand recht ausschlafen, was nichts ausmacht, da im Bus ja genug Gelegenheit dazu sein wird. Nach der Verabschiedung vom überaus
freundlichen Hostelpersonal – wer hat schon einen Mitarbeiter, der früh morgens die Gäste singend bei Laune hält, weil er schon ein, zwei Red Bull intus hat – laden wir uns und unser Gepäck pünktlich in den Bus, packen anschließend noch die 9c ein und begeben uns nach einem Ministop an der East Side Gallery und der Oberbaumbrücke bei schönem Wetter auf die Autobahn. Berlin ade!
Dem trüben, aber warmen Wetter entgegen, machen wir Meile um Meile Autobahnstrecke, um nach langer Fahrt schließlich sehr, sehr müde, aber zufrieden gegen 20.30 Uhr in Stolberg anzukommen, um die Kids ihren Eltern zu übergeben und uns ins wohlverdiente
Wochenende zu verabschieden (wenn da nicht noch die didacta in Köln am nächsten Tag wäre). Ich freue mich riesig über die Blumensträuße, die uns überreicht werden. Wenig später kommen mir meine Halbstarke und der Zwerg sowie meine bessere Hälfte freudestrahlend entgegen – was will man mehr.
Fazit: Ich habe eine recht entspannte Klassenfahrt mit einer Klasse 9 hinter mir – eigentlich ein Widerspruch in sich. Die Freiheiten, die ich den Schülern eingeräumt habe, haben sie mir gedankt mit Zuverlässigkeit bei Absprachen, einem gehörigen Schuss Disziplin bei teils sensiblen Veranstaltungen (Jüdisches Museum, Bundestag, HohenschönÂhausen etc.) und
der Gewährung von erstaunlich vielen Stunden Schlaf – Schlafentzug ist ja bekanntlich eine der größten Foltern, die einem widerfahren können. Und obendrein gab es auch erstaunlich wenig Gemeckere, es entwickelte sich gar ein ausgesprochenes Miteinander und gegenseitige Unterstützung. Ich denke, zumindest hoffe ich, dass die Fahrt allen doch recht gut gefallen hat. Ich bin sicher, jeder nimmt wichtige Erfahrungen mit nach Hause und hoffe, dass diese Fahrt auch einen Beitrag zum guten Klassenklima geleistet, das gegenseitige Verständnis gefördert hat und für alle eine schöne Erinnerung darstellt. Wie auf jeder Klassenfahrt möchte ich auch hier ein abschließendes Motto vergeben. Nach dem letztjährigen Motto „Nicht meckern, sondern machen“ möchte ich der Klasse heute mitgeben: „Leute, macht was draus!“
Schließlich möchte ich meiner Begleiterin, B. Heck-Wattjes noch einmal einen herzlichen Dank aussprechen für ihre Unterstützung bei der Organisation der Fahrt, für die zahlreichen „kleinen Dinge“, die sie übernommen hat und für ihre angenehme Begleitung bei unseren Streifzügen durch Berlin – Vielfalt im Wandel.
Dr. O.